"Die gelbe Tüte" von Anna Egger

Eine stärkende Geschichte, die Mut macht, glückliche Momente zu sammeln und belastende ganz bewusst zu entsorgen

"Ein Mann saß auf einer Parkbank, traurig und bedrückt. Er dachte über sein Leben nach und darüber, was alles schief lief. Ein kleines Mädchen, das durch den Park schlenderte, sah den Mann, bemerkte seine Stimmung und setzte sich zu ihm auf die Bank. Sie fragte ihn: "Warum bist du denn so traurig?" Der Mann antwortete geknickt: "Ach, weißt du, ich habe keine Freude im Leben. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, alles und alle haben sich gegen mich verschworen und nichts läuft so, wie es soll."

 

Das Mädchen schaute verwundert und fragte: "Wo hast du denn deine gelbe Tüte? Darf ich sie mal sehen?" Der Mann verstand nicht und erwiderte: "Was für eine gelbe Tüte? Ich hab nur eine schwarze." Schweigend gab er dem Mädchen die schwarze Tüte. Behutsam öffnete die Kleine die schwarze Tüte und sah hinein. Das Mädchen erschrak und sagte entsetzt: "Das sind ja nur schlimme Erlebnisse, Alpträume, Unglück, Schmerz und Leid!" Der Mann entgegnete traurig: "Das ist eben so, da kann ich nichts machen."

 

"Hier, schau", sagte die Kleine und reichte dem Mann eine gelbe Tüte. Etwas unsicher öffnete der Mann diese, und er sah ganz viele schöne Dinge: Sonntage, glückliche Stunden, Lachen, Freude, Unbeschwertheit und Zufriedenheit.

 

Er wunderte sich, da das Mädchen noch jung war und fragte: "Wo ist deine schwarze Tüte?" Die Kleine antwortete keck: "Die werfe ich jede Woche in den Müll und kümmere mich nicht mehr darum! Ich denke, es ist viel schöner und sinnvoller, meine gelbe Tüte immer weiter zu füllen. Da stopfe ich so viel wie möglich hinein und immer, wenn ich Lust dazu habe oder traurig bin, schaue ich hinein. Dann geht es mir gleich wieder besser. Wenn ich dann alt bin, habe ich eine ganz volle Tüte und kann mir viele schöne Erinnerungen anschauen."

 

Der Mann war verblüfft. Und als er noch über die Worte der Kleinen nachdachte, war diese bereits verschwunden. Neben ihm lag eine gelbe Tüte auf der Bank. Er öffnete sie zaghaft und sah, dass sie fast leer war. Nur ein herzliches Gespräch mit dem kleinen Mädchen war darin.

Der Mann lächelte und stand auf. Er nahm die gelbe Tüte mit. Auf dem Heimweg entsorgte er seine schwarze Tüte im nächsten Müllkübel."

Richte deinen Blick stets auf das, was dir, deiner Familie, deinen Kindern und deinem Team gelingt. Du wirst ganz sicher etwas finden!

Einer aufmerksamen, lieben Mutter verdanke ich diese Geschichte. "Die gelbe Tüte" spricht mich sehr an, weil sie eins der wichtigsten Elemente der systemischen Beratung aufgreift. "Statt nur Defizite der Klienten aufzulisten (das tun die meisten Klienten sowieso schon zur Genüge selbst), konzentrieren wir uns in der systemischen Beratung und Therapie lieber auf die Stärken und Ressourcen, auf das, was gelingt und was - trotz aller Probleme - liebens- und erhaltenswert ist. Und da werden wir immer fündig!" (Rainer Schwing/Andreas Fryszer, Systemische Beratung und Familientherapie - Kurz, bündig, alltagstauglich, 2014, S. 11)