Ein Beitrag über das kurze Wort NEIN und wie es vor Überlastung schützen kann.
Wie geraten Menschen in solch eine missliche Lage? Wie entsteht ein derart großer Berg an Aufgaben, Terminen, unbeantworteten Nachrichten, versprochenen und nicht erledigten Gefälligkeiten, unerfüllten Wünschen und Bedürfnissen? Und welche Erfahrung müssen wir im Laufe unseres Lebens gemacht haben um zu lernen, dass ein klares und deutliches NEIN wichtig ist und zu unserem Schutz dient?
Wenn Kinder mit einer Situation, einer Person oder einem Ort konfrontiert werden, senden sie sofort ein Signal an ihre Bindungsperson: "Ja, das ist angenehm! Das tut mir gut! Die Person mag ich!" oder "Nein, das möchte ich nicht! Die Person mag ich nicht! Das tut mir nicht gut! Das ängstigt oder überfordert mich!"
Bereits Krippenkinder zeigen uns ihr NEIN ganz deutlich an, indem sie sich wegdrehen, wegkrabbeln, ihren Blick abwenden oder weinen. In der Autonomiephase beginnen Kinder, ihr NEIN laut und deutlich in die Welt hinauszurufen, begleitet von starken Emotionen und einer inneren Zerrissenheit zwischen "JA, ich kann das allein!" und "NEIN, ich brauche deine Hilfe!"
Und wenn sie dann die Erfahrung machen, dass ihr NEIN gesehen, gehört, respektiert wird und es ihnen gelungen ist, sich mitzuteilen und somit für Schutz und eine Entlastung zu sorgen, ja dann kann eine positive Verknüpfung entstehen.
Doch ein kindliches NEIN wird häufig überhört.
Das kindliche NEIN ist leider sehr negativ behaftet und wird oft mit einem Protest gleichgesetzt. Kinder, die laut und deutlich sagen, wenn sie etwas nicht möchten, werden als unerzogen, frech, schwierig und auffällig bezeichnet. Für ihr mutiges und klares NEIN werden sie eher selten gelobt und der Grund für ihre Ablehnung wird kaum hinterfragt.
Ein kindliches JA wird mit "Oh wie schön, da freue ich mich!" positiv hervorgehoben und gelobt. Ein NEIN hingegen wird meist mit einem "Schade! Wirklich nicht? Bist du sicher? Warum denn nicht? Da bin ich jetzt aber traurig!" negativ bewertet und in Frage gestellt.
Eine positive Verknüpfung zwischen einem deutlich kommunizierten NEIN und dem Gefühl, somit etwas für den Selbstschutz getan zu haben kann so natürlich kaum entstehen. Also sagen wir brav "Ja! Na gut. Wenn sonst keiner macht. Muss ja. Hilft nichts.". Wir übernehmen Dienste und zusätzliche Aufgaben, machen Überstunden oder nehmen Arbeit mit nach Hause, treffen uns mit Menschen, die wir eigentlich nicht mögen, erfüllen Wünsche und stillen Bedürfnisse, beantworten Nachrichten, obwohl wir Urlaub haben, helfen anderen Menschen, obwohl wir selbst krank sind.
"Wenn wir nicht die Möglichkeit haben, NEIN zu sagen - dies zumindest so empfinden -, bleiben uns nur drei gleichermaßen unbefriedigende Möglichkeiten: das lauwarme Ja, die Lüge oder die Resignation." Jesper Juul
Kinder sind in diesem Lernprozess natürlich sehr auf die Begleitung, genaue Wahrnehmung und angemessene Reaktion seitens ihrer Eltern und PädagogInnen angewiesen. Wird ihnen die Wahl gelassen und vermittelt, dass sie auch NEIN sagen können, ohne sich rechtfertigen zu müssen, dann wird ihnen diese Fähigkeit auch später zu einem gesunden Selbstschutz verhelfen.
Vielleicht ist das der Grund, weshalb viele Erwachsene auf den Impuls von außen hoffen, um tatsächlich den Mut aufzubringen, etwas abzulehnen. "Du darfst auch NEIN sagen! Aber nur, wenn du wirklich Zeit hast! Du musst nicht, wenn du nicht willst! Nein, du machst das nicht auch noch, du hast schon so viel zu tun. Ich übernehme das für dich." Doch was kannst du tun, wenn dieser Impuls nicht kommt? Was kannst du tun, wenn dein Wunsch nach Entlastung und die Erwartungen an Partner/in, Chef/in, Kinder nicht erfüllt werden?
Dann musst du selbst tätig werden.
Unser nahes Umfeld reagiert selten freudig und jubelnd auf unser NEIN.
Um das zu verdeutlichen, möchte ich eine ganz persönliche Erfahrung mit dir teilen. Es ist schon eine Weile her. Ich arbeitete als Erzieherin in einer Einrichtung und sollte ein dreijähriges Mädchen eingewöhnen. Die Familie kam aus einem anderen Land, somit konnte mich das Mädchen nicht verstehen. Anfangs lief alles gut, das Mädchen hat begonnen, ihren neuen Kindergarten zu erkunden und zu mir einen Bezug aufzubauen. Und so starteten wir einen ersten, kurzen Trennungsversuch. Auch das lief gut. Dann bekam die Mutter von der Kitaleitung die Information, sie könne ruhig später kommen, ihre Tochter müsse sich schließlich dran gewöhnen. Und ich bekam die Anweisung, das Mädchen ruhig weinen zu lassen, das sei nur Trotz und Wut, da müsse es durch und das würde schon irgendwann besser werden.
Jedes Argument meinerseits, jeder Versuch, das Bindungsverhalten eines Kindes und die Wichtigkeit einer behutsamen Eingewöhnung zu erklären, wurden abgetan. Ganze zwei Tage lang versuchte ich, das Mädchen so gut es ging zu begleiten – ohne Erfolg. Ihr Weinen wurde schlimmer. Sie saß in der Garderobe und versuchte, Jacke, Mütze, Schal, Schuhe anzuziehen und ihre Kindergartentasche aufzusetzen, in der Hoffnung, dass die Mama dann kommen und sie holen würde. Am dritten Tag suchte ich das Gespräch mit der Leitung, schilderte ihr das Problem und meine Bedenken und sagte, dass ich die Eingewöhnung auf diese Art und Weise nicht durchführen kann und will. Ich nahm meinen Mut zusammen und sagte tatsächlich NEIN.
Mit diesem Ergebnis
„Na gut, wenn du es nicht schaffst, das Kind ordentlich einzugewöhnen, dann wird das jetzt deine Kollegin übernehmen. “ Das war also die Reaktion auf mein NEIN. Kein „Ich finde es gut, dass du gekommen und deine Bedenken geäußert hast!“ oder, oder, oder…
Ich arbeite dort nicht mehr. Und ich werde zu solchen Methoden immer und immer wieder NEIN sagen! Und auch wenn mich damals niemand verstanden hat, mir niemand Anerkennung ausgesprochen hat, war ich selbst stolz auf mich, so mutig gewesen zu sein. Und das ist es, was zählt! Dein nahes Umfeld wird auf dein NEIN selten jubelnd und freudig reagieren. Und darum musst du das selbst tun! So kannst du dafür sorgen, eine positive Verknüpfung herzustellen zwischen deinem NEIN und dem wohltuenden Gefühl, dich vor noch mehr Druck und Überlastung geschützt zu haben. Erkenne deine Erfolge an - und mögen sie auch noch so klein sein - als wärst du dir eine liebevolle Freundin, ein fürsorglicher Vater oder deine Lieblingsoma.
Schenke dir Anerkennung für jedes mutige, klare und schützende NEIN, wie es eine liebevolle Bindungsperson tun würde. Und wenn du wieder vor einer Entscheidung stehst und dich dabei ertappst, eine innere Verhandlung mit dir selbst zu führen: "Eigentlich ist mir das zu viel! Eigentlich möchte ich das nicht tun. Eigentlich schaffe ich das nicht! Eigentlich habe ich dafür keine Kraft!" dann hoffe ich sehr, dass du nun ein kleines bisschen mutiger sein wirst und es dir gelingt, NEIN zu sagen!